Lea Ypi: Was bedeutet Freiheit?

Autorin Lea Ypi mit Renate Buerner bei Kolibri-Benefizlesung am 17.02.2023

Lesung mit der Autorin und Philosophin Lea Ypi am 17.2.2023

in Kooperation mit der Petra Kelly Stiftung

Autorin Lea Ypi mit Renate Buerner bei Kolibri-Benefizlesung am 17.02.2023

Bis auf den letzten Platz ist der Saal in der Seidl-Villa besetzt. Eingeladen hat die Kolibri Interkulturelle Stiftung. Gesa Tiedemann, die Geschäftsführerin der Petra-Kelly-Stiftung, eröffnet den Abend, begrüßt das Publikum und die Autorin der Lesung: Lea Ypi, die ihren Publikumserfolg „Frei – Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ vorstellen wird. Frau Bürner-Kotzam moderiert den Abend und umreißt einleitend den biografischen Hintergrund der Autorin.

1979 in Albanien geboren, hat Lea Ypi als Kind die Welt des Sozialismus und der Diktatur von Enver Hoxha kennengelernt. Als Heranwachsende erlebt sie den Sturz der Diktatur, den Umbruch in Albanien. Ihre eigene Familie zerbricht fast in diesen Zeiten und Lea Ypi verlässt Albanien, um in Italien Philosophie, Literatur und Journalistik zu studieren. Heute ist sie unter anderem Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics.

„Frei“ ist die erste autobiografische Veröffentlichung der Autorin. Sofort nach dem Erscheinen des Buches 2021 überschlugen sich die positiven Rezensionen. Die Financial Times und der New Yorker haben „Frei“ zum Buch des Jahres gekürt.

Frau Bürner-Kotzam präsentiert Lea Ypis Schrift als Memoir, in der ein vielper-spektivisches Bild von Albanien vor, in und nach den Zeiten des Umbruchs gezeichnet wird. Lea Ypi liest das erste Kapitel ihres Werks auf Englisch, drei weitere Kapitel werden von der Schauspielerin Diana Marie Müller vorgetragen.

Worum geht es in diesem Buch? Aus der Ich-Perspektive erzählt Lea Ypi ihre Erlebnisse als Kind im sozialistischen Albanien. Die Eltern, die Großmutter, Freunde und Nachbarn bevölkern die kindliche Welt, die nicht immer ohne Fragen bleibt, aber letztlich im Glauben an „Onkel Enver“ intakt ist. Mit dem Sturz des sozialistischen Regimes beginnt der zweite Teil des Buches, der die Erschütterung einer festgefügten Ordnung und das daraus resultierende Chaos beschreibt. Das letzte Kapitel trägt den Titel „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an sie zu verändern.“ Vielleicht ein Wahlspruch der jungen Frau, die nun Albanien verlässt, um in Italien Philosophie zu studieren.

Lea Ypi, Renate Bürner, Diana Marie MüllerIm Gespräch zwischen den Lesungen geht es um die zentralen Botschaften des Werks, um die Gründe für den außerordentlichen Erfolg. Lea Ypi spricht übrigens deutsch und nimmt mit dieser Konzentrationsleistung das Publikum noch einmal mehr für sich ein.

Das große Thema dieser Autobiografie ist – wie könnte es bei diesem Titel anders sein – die Suche nach der Bedeutung von Freiheit. Diese Frage verhandelt Lea Ypi nicht theoretisch, sondern in der Schilderung des Alltags. Philosophische Fragen werden so heruntergebrochen auf eindrucksstarke Szenen und Bilder. Eines davon ist im Titelbild der Ausgabe des Suhrkamp Verlags zu sehen.

Eine Cola-Dose. Im sozialistischen Albanien wird diese Cola-Dose im Wohnzimmer der Familie Leas zum Symbol des Widerstands gegen Bevormundung und Unterdrückung.

Eindrücklich gestaltet die Autorin ebenso die Widersprüchlichkeit der Erfahrungen der Albaner*innen, die sich zu Beginn der 90er Jahre zur Flucht aus einer unsicheren Heimat entscheiden, die alles wagen, um in den ersehnten Westen zu gelangen. Völlig unerwartet sehen sich diese Menschen mit einer neuen Realität konfrontiert. Jetzt, da die Grenzen offen sind, werden sie nicht mehr wie früher als „Helden“ empfangen, sondern als unerwünschte Personen zurückgeschickt. Lea Ypi erklärt, dass diese Widersprüchlichkeit keine singuläre Erfahrung ist, sondern systembedingt in einer Welt, in der nationale politische Entscheidungen auf globale Ungleichheit und Asymmetrien von Macht stoßen. Bis heute desavouieren demokratische Staaten ihre eigenen Werte in der Migrations- und Asylpolitik, konstatiert Frau Bürner-Kotzam.

Mit der abschließenden Lesung des Epilogs werden noch einmal die großen philosophischen Linien des Werks deutlich: Wer ist frei? Wer ist unfrei? Die einfache Antwort, dass der Sozialismus Albaniens Unfreiheit bedeute und Demokratie und Liberalismus des Westens Freiheit, lässt Lea Ypi nicht zu. Aus ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Marx und Kant leitet sie den Begriff der moralischen Freiheit ab, die auch in äußerer Unfreiheit gelebt werden könne, so wie ihre Großmutter es getan hat. Für Lea Ypi ist eine Welt nicht frei, solange es Ausbeutung und Unterdrückung gibt. Und das gibt es auch im freien Westen. Dem Leser mutet sie zu, selbst nach Antworten zu suchen. Ihr Werk gibt keine Lösungen vor und fordert zu einer autonomen Urteilsbildung auf. Deshalb hat sich Lea Ypi für ein literarisches Schreiben entschieden, das die Auseinandersetzung mit Zweifeln zulässt.

Der Kolibri Stiftung ist mit dieser Lesung ein wunderbarer Abend gelungen, der bei vielen im Publikum nachklingen wird. Lea Ypi hat trotz Termindruck sofort ihre Teilnahme an dieser Benefizveranstaltung zugesagt. Ein großes Glück für das Publikum und ein großer Dank an Lea Ypi und an die Kolibri Stiftung!

Text: Gabi Graswald-Vidovic
Fotos: Wolfgang Sreter

Das Veranstaltung wurde aufgezeichnet. Schauen Sie hier – Lesung &  Gespräch mit Lea Ypi.