Wenn ich mit Anil* aus Afghanistan sprach, antwortete er stockend und mit gesenktem Kopf, sehr oft weinte er. Den Zwanzigjährigen hatte das Schicksal besonders hart angepackt.
Anils lange Flucht aus Afghanistan endete Anfang 2015 in München. Ängstlich versteckte er sich zwei Tage in der Nähe des Hauptbahnhofs, bis er von der Polizei in eine Erstaufnahme-einrichtung gebracht wurde. Ein halbes Jahr dauerte es, bis er endlich einen dauerhaften Platz bekam. Aber er fand kaum Beachtung, hatte keine Freunde.
Dann kam der ersehnte erste Unterricht in seinem Leben – gehalten von ehrenamtlichen Lehrerinnen und Lehrern, eine davon war ich. Zuerst musste er das Alphabet lernen. Bei der IG Initiativgruppe, Partnerorganisation von Kolibri, erhielt er bald einen professionellen Deutsch-Kurs.
Bald wurde aber deutlich, dass er schwer traumatisiert ist. Die anderen Geflüchteten spotteten unverhohlen „der ist „verrückt“. Die Suche nach einer Psychiatrischen Praxis blieb lange erfolglos.
Glück brachte ihm dann der nächste von zwei Anmeldeterminen im Jahr bei Refugio, denn er war einer der wenigen unter zweihundert Bewerbern, die einen Platz bekamen.
Anils Geschichte ist beklemmend
Als er zwölf war, wurde sein Vater, der bei der Polizei war, von den Taliban erschossen. Durch den Schock starb die hochschwangere Mutter, und Anil und sein 7jähriger Bruder waren plötzlich allein.
Sie wurden in ein anderes Dorf zu einem Cousin gebracht, der mit Frau und vier Kindern in einem bescheidenen Haus lebte. Vom Cousin wurde Anil oft geschlagen, und er bekam nicht ausreichend zu essen, nicht selten hungerte er. Der Cousin zwang den Zwölfjährigen zur Arbeit; in die Schule konnte er deshalb nicht gehen. Weil er Angst vor dem brutalen Cousin hatte, kam Anil oft nicht heim, und eines Tages fesselte der Cousin ihn mit einer Kette an den Stuhl und schlug ihn.
Über Jahre hegte Anil den Plan, gemeinsam mit seinem Bruder zu fliehen, bekamTipps von Leuten im Dorf. 2015 war es dann soweit. Es gelang ihm, das Haus seiner Eltern zu verkaufen, um mit dem Erlös Schlepper zu bezahlen.
Dann war der Bruder verloren gegangen
Mit seinem inzwischen 15jährigen Bruder ging es zunächst bis Griechenland, wo sie auf die Weiterfahrt in die Türkei warteten. Dort wurden die Brüder getrennt, als man ihnen sagte, für beide sei kein Platz im selben Boot. Bis heute gibt es kein Lebenszeichen von dem Bruder, trotz Suche mithilfe des Roten Kreuzes.
Anil litt permanent unter Kopf- und Rückenschmerzen, er konnte kaum schlafen, und er hatte ständig Angst vor Verfolgung. Die zähe Bearbeitung seines Asylantrags führte zu Panikattacken bei der Vorstellung, dass er zurück nach Afghanistan abgeschoben wird.
In der Schule lernte er mit verbissesem Ehrgeiz, nahm jedes Praktikum an, das ihm geboten wurde, um eine geeignete Berufsausbildung zu finden. Jetzt hat er eine Ausbildung im Hotelgewerbe begonnen. Er strahlt, ist selbstbewusst, und mit hängendem Kopf ist er nicht mehr zu sehen. Ohne die Hilfe von Refugio hätte er das nicht geschafft.
Damit auch andere Geflüchtete Heilung von ihren posttraumatischen Erlebnissen erfahren können, so wie bei Refugio, dem Behandlungszentrum für traumatisierte Geflüchtete und Folteropfer, bitten wir Sie mit einer Spende für Kolibri um Ihre Unterstützung. Vielen Dank!
* Name geändert
Die ehrenamtliche Helferin möchte namentlich nicht genannt werden.
Foto: Eleonore Peters, Kolibri