Afghanischer Junge verliert auf der Flucht Mutter und Schwester

Anni Kammerlander von Refugio
Anni Kammerlander von Refugio trug den Fall auf einer Kolibri Benefizveranstaltung vor.

Das Behandlungszentrum für traumatisierte Geflüchtete und Folteropfer Refugio hat letztes Jahr 240 traumatisierte geflüchtete Kinder und Jugendliche durch Einzeltherapien unterstützt. Darunter war der elfjährige Harun* aus Afghanistan, der ein besonders trauriges Schicksal zu erleiden hatte. Sein Dorf wurde mehrmals von den Taliban überfallen; viele Bewohner wurden misshandelt, und eines Tages wurde vor Haruns Augen sein Vater getötet.

Da für die Familie das Leben in der Heimat zunehmend unsicherer wurde, flüchtete die Mutter mit Harun und der jüngeren Schwester. In den Wirren bei den Grenzüberschreitungen gingen seine Mutter und seine Schwester verloren. Bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihnen. Es quält Harun, nicht zu wissen, ob sie überhaupt noch leben, und er wird von Schuldgefühlen geplagt.
Andere Afghanische Geflüchtete nahmen sich seiner an, und gemeinsam kamen sie im Februar 2018 nach München. Dort konnte Haruns Tante ausfindig gemacht werden, die bereits längere Zeit in München lebte. Schon nach kurzer Zeit stellte sich aber heraus, dass die Tante mit ihm überfordert war und ihm kein Zuhause bieten konnte. Er wurde in einem Kinderheim untergebracht.

Harun konnte in einer Übergangsklasse eingeschult werden, aber die Anpassung bereitete ihm große Probleme. Er war aggressiv gegenüber anderen Kindern und ständig in Konflikte mit ihnen verwickelt.  Angstzustände plagten ihn und er wurde schnell wütend. Im Unterricht konnte er sich schlecht konzentrieren und hatte Mühe dem Lernstoff zu folgen.
Nach all den schlimmen Erfahrungen in der Heimat und auf der Flucht, und vor allem durch den Verlust von Mutter und Schwester war er völlig aus dem Gleichgewicht gekommen und konnte seine Trauer nicht anders als durch permanente Wut ausdrücken.

Lange Zeit konnte Harun nicht über sein seelisches Leiden sprechen. Erst nach geraumer Zeit und mit viel Geduld der Kindertherapeutin berichtete er über seine schlimmen Erfahrungen. Wenn er erzählte, wirkte er wie ein vorzeitig gealtertes Kind. Seine Traurigkeit, unter der er ständig litt, gestattete ihm keinen kindlichen Ausdruck. Albträume und Flashbacks, die das Erlebte immer wieder an die Oberfläche holten, konnten ihn vor allem nachts nicht zur Ruhe kommen lassen. Typische Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Durch die Therapie hat sich sein psychisches Befinden deutlich verbessert, sein Selbstwertgefühl ist gestiegen, und die Konzentration in der Schule ist gut. Aufgrund guter Leistungen kann er bald in die fünfte Mittelschulklasse wechseln. Weil seine Aggression nachgelassen hat, ist er auch in seiner Wohngruppe bestens integriert. Seine Traurigkeit ist noch da, aber er hofft weiterhin, eines Tages Mutter und Schwester wiederzufinden.

Nach seinem Asylantrag erhielt Harun den Aufenthaltsstatus „gestattet“. Eine endgültige Entscheidung über ein Bleiberecht steht noch aus.

Damit auch andere geflüchtete Kinder Heilung für ihre geschundene Seele in einer Einrichtung wie Refugio erhalten können, bitten wir Sie mit einer Spende um Ihre Unterstützung.

* Name geändert
Foto: Gisela Osselmann