Von „Heisser Sommer“ zu „Alle meine Geister“

Lesung - Uwe Timm, mit Renate Bürner

Lesung und Gespräch mit Uwe Timm im Volkstheater am 9.12. 2024

Bevor Kolibri mit der Werbung beginnen konnte, war die Veranstaltung mit Uwe Timm, einem der größten deutschsprachigen Gegenwartsschriftsteller, schon ausverkauft.

Lesung - Uwe Timm, mit Renate BürnerDie Übersetzung seiner Texte in mehr als 20 Sprachen zeigt seine internationale Bedeutung nicht nur als wunderbarer Erzähler, sondern auch als Chronist der Zeit, der hinterfragt, Verschwiegenes aufspürt und an noch nicht Eingelöstes erinnert. Auf den Wegen von vier ausgewählten Texten führten Lesung und Gespräch mit Dr. Renate Bürner in seine Textwelt, um zu sehen, wie die Texte miteinander korrespondieren und aufeinander verweisen. Fast zwei Stunden bestimmte die aufmerksame Stille eines interessierten Publikums die Atmosphäre im Saal.

Alle meine Geister ein autobiografischer Rückblick

Das von Dr. Renate Bürner mit klugen, kenntnisreichen Fragen geführte Gespräch begann mit der 2023 erschienenen Autobiografie Alle meine Geister, in der Uwe Timm ausgehend von seiner Kürschnerlehre über diese untergegangene Handwerkskunst und – kultur erzählt. Zu dieser Kultur gehörten auch entscheidende Lektüreempfehlungen und -gespräche mit Meistern und Gesellen und ebenso die Werkstatt als Ort des Erzählens.

Das erinnernde Erzählen, das die Unzuverlässigkeit des Erinnerns mit reflektiert, ermöglicht die Begegnung zweier Blicke, die des wissend Zurückblickenden in die Mentalität der 50er Jahre und die des ungewiss nach vorne Schauenden. Ein würdigendes Hinterfragen des eigenen Lebensweges, das überzeugt und vielleicht auch ermutigt.

Obwohl die Kürschnerlehre vom Vater entschieden wurde, lernt Uwe Timm gerade in dieser Handwerkskunst Entscheidendes für seine Erzählweise, nicht nur die kompromisslose Genauigkeit und Präzision, die erst sprachliche Überzeugungskraft ermöglicht, so wie sie die Schönheit des einzelnen Fells zur Geltung brachte, sondern auch die narrative Montagetechnik, die nicht chronologisch erzählt, um neue Zusammenhänge aufzuzeigen.

50 Jahre Heisser Sommer
der ‚kanonische‘ Roman über die Studentenbewegung 1967/68

Auch dieser erste, 1974 erschienene Roman Uwe Timms, dessen Protagonist, der Germanistikstudent Ulrich Krause, sich in seiner Orientierungslosigkeit dem Zeitgeschehen aussetzt, erzählt das konträre Denken und Empfinden der Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven – ein literarischer Beitrag zum kulturellen Gedächtnis.

Im Gespräch erinnert Uwe Timm an das ‚Erbe‘ dieser Zeit: das kritische Denken und Hinterfragen von Autoritäten, die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration und ihrem lebbaren Zurechtbiegen der NS-Vergangenheit, die erst die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozalismus ermöglicht hat, eine neue Aufmerksamkeit und Sprache für persönliches Empfinden.

Am Beispiel meines Bruders
eines der besten Bücher des Jahrhunderts 1924 – 2024 (Spiegel Liste)

Diese Erzählung über den 16 Jahre älteren Bruder, der sich 1942 freiwillig zur SS-Totenkopfdivision meldet und 1943 in der Ukraine stirbt, ist eine vierstimmige „Fuge“ über Leben und Tod des Bruders, des Vaters, der Mutter und der Schwester – ein Nachdenken über das eigene Gewordensein. Die Antwort auf die Frage, was empathieloses Verhalten möglich macht, so dass man „mit bestem Gewissen Menschen umbringen kann“, führt zum Erschrecken über das Unmenschliche als Maßstab von Normalität und damit auch über die Deformierbarkeit des Menschen. Dass vor dieser Gefährdung der Menschlichkeit auch die Kultur nicht schützen kann, erzählt der Text ebenfalls. Bewusst gehalten werden kann aber, dass Bildung nicht identisch ist mit Charakterbildung.

Morenga – einer der ersten postkolonialen Romane

Auch dieser 1978 erschienene Roman über den Genozid an den Herero und Nama 1904 – 1908 in Deutsch Südwestafrika, dem heutigen Namibia, geht der Frage nach, wie es dazu kommen kann, dass man „mit bestem Gewissen und mitleidlos Menschen umbringen kann“. Er erschien lange vor einem gesellschaftskritischen Bewusstsein über Kolonialismus.

Die narrative Montage stellt dokumentarische Texte neben fiktionale. Wir vernehmen Stimmen des Militärs, der Händler, Geistlichen, Abweichler und der Zugochsen, aus deren wunderbar magisch realistisch erzählendem Mund wir über die Vorgeschichte des Landes erfahren. Auf diese Weise entfaltet das Erzählen die Mentalität des kolonialen Systems, die Begegnung zweier Kulturen im Kontext von Gewalt und Menschenverachtung.

Der Titelheld, Jakob Morenga, Führer der Nama, ist klug, menschlich, ein militärisches Genie, das die überlegene deutsche Schutztruppe mit seiner Guerillataktik zwei Jahre lang in große Schwierigkeiten bringt. Man nähert sich dem Titelhelden auf unterschiedlichen Wegen, ohne ihn kennenzulernen – ein Erzählen, das sich nicht anmaßt, Weltsicht und Empfindungen Morengas zu kennen. Diese Überzeugung prägt auch den Protagonisten, den deutschen Veterinär Johannes Gottschalk, der sich auf die fremde Kultur einlässt, um die Grenzen der Verstehbarkeit zu akzeptieren – eine Haltung des Respekts. Seine Menschlichkeit erzwingt die Bitte um Entlassung aus diesem System tödlicher rassistischer Verachtung.

Musik spielt in vielen Texten Uwe Timms eine Rolle und so endete der Abend auf seinen Wunsch als Rondo mit einer Lesung aus Alle meine Geister.

Nicht nur die vielfach geäußerte Begeisterung und die zahlreichen dankbaren Rückmeldungen, auch der fast leer gekaufte Büchertisch zeugen von diesem beeindruckenden Abend.