Die Neue Seidenstraße – Chance und Risiko

Die Neue Seidenstraße - Jens Bastian

Gespräch mit Dr. Jens Bastian

Veranstalterinnen: Interkulturelle Stiftung Kolibri / Südosteuropa-Gesellschaft (beide München)
München, 19. November 2024

In der Evangelischen Stadtakademie sprach Dr. Renate Bürner, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei Kolibri, mit Dr. Jens Bastian von der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin über die wirtschaftlichen und politischen Interessen hinter den verschiedenen Projekten der „Neuen Seidenstraße“. Sie soll zu einer globalen Handelsroute quer durch Kontinente und Regionen werden. Den Plan dazu stellte Chinas Staatschef Xi Jinping 2013 vor. Inzwischen verbinden die bereits fertig gestellten Land- und Seewege Europa, Afrika, Südamerika und Südostasien.

Die Neue Seidenstraße - Jens BastianEine polare Seidenstraße von China nach Europa via Arktis wird derzeit realisiert. Rund 150 von 193 Ländern der Erde, davon 17 europäische, sind an diesem größten Infrastrukturprojekt der neueren Geschichte beteiligt. China investiert sowohl in den Bau von Häfen, Staudämmen, Pipelines, Autobahnen, Eisenbahnlinien als auch in digitale, gesundheitliche und „grüne“ Infrastrukturprojekte. Jens Bastian und Renate Bürner blickten in ihrem Gespräch auf die Situation Chinas in den letzten Jahren, auf Rahmenbedingungen, Vertragspartner, auf die Rolle der EU und Deutschlands, auf Lernproprozesse und Erfolge dieses riesigen Infrastrukturprojektes.

Chinas Interessen und wachsende Skepsis

Die „Neue Seidenstraße“ soll neue Absatzmärkte, vor allem für chinesische Waren, und den Zugang zu neuen Ressourcen erschließen. Seinen Vertragspartnern bietet China „Komplettpakete“ an: sowohl Finanzierung, Planung und Umsetzung als auch den anschließenden Betrieb des Infrastrukturprojektes.

Entgegen den Erwartungen der betroffenen Länder, die auf Arbeitsplätze für ihre Region hoffen, werden die Projekte allerdings auch von chinesischen Arbeitern durchgeführt. Die Geheimhaltung der Projektverträge ist verpflichtend, bei Streitigkeiten ist der Gerichtsstandort in China. Trotz des Erfolgs vieler Projekte wächst die Skepsis gegenüber neuen Vorhaben der „Neuen Seidenstraße“. Das hat unterschiedliche Gründe. Einer der Hauptgründe sind die Zahlungsschwierigkeiten betroffener Länder, welche die chinesischen Kredite nicht mehr bedienen können.

Auch auf chinesischer Seite wächst der Druck: Die wirtschaftlichen und innenpolitischen Herausforderungen Chinas – geringes Wirtschaftswachstum, Verschuldung der Provinzregierungen, Immobilienkrise, Konsumrückgang, Deflation, Arbeitslosigkeit vor allem junger Chines*innen und demografische Entwicklung (Geburtenrückgang, Überalterung) – führen zu der offiziell verkündeten zukünftigen Konzentration auf „kleine und grüne Projekte“ zur Stärkung der umweltfreundlichen Entwicklung.

Lernprozesse aller Beteiligten

Sowohl China als auch die EU und andere Staaten, die Verträge mit China schließen, haben dazugelernt. Sie haben die geopolitische/politische und kulturelle Dimension der „Neuen Seidenstraße“ verstanden. China selbst achtet inzwischen auf ökologische Aspekte und ermöglicht zunehmend, dass auch der Arbeitsmarkt der Vertragspartner berücksichtigt wird. Mit ihrem „Global-Gateway“ Programm versucht die EU, dem Einfluss Chinas etwas entgegenzusetzen. Nach Einschätzung von Bastian kommt diese Initiative allerdings (zu) spät und ist nicht vergleichbar mit den Dimensionen der „Neuen Seidenstraße“. Außerdem gibt es in der EU kein einheitliches Vorgehen der Mitgliedstaaten. Während Italien etwa die Beteiligung an der „Neuen Seidenstraße“ beendet hat, ist Ungarn seit 2015 mit etlichen Projekten daran beteiligt. EU-Standards hinsichtlich der Arbeitsbedingungen werden dabei kaum bis gar nicht berücksichtigt. Ungarn hat inzwischen auch die Ansiedlung von BYD, dem größten chinesischen E-Autohersteller, erlaubt. Dieser kann damit die von der EU auf E-Autos festgelegten Zölle umgehen und auf dem europäischen Markt an Einfluss gewinnen.

Die Komplexität des Themas und die Aufforderung zu differenzierter Betrachtung erfordern weit mehr Zeit, als sie an diesem Abend zur Verfügung steht. So konnte auf die wachsende Bedeutung der digitalen Seidenstraße am Beispiel der „smart city“ Belgrad nur hingewiesen werden. Sie ermöglicht neben der Verbesserung von Transport und Logistik auch weitgehende Überwachung von Personen und Verkehrsbewegungen auf Straßen und Plätzen.

Der kenntnisreiche und interessante Input von Jens Bastian und der wertschätzende Austausch zwischen ihm und Renate Bürner machte die Veranstaltung zu einem spannenden Abend. Die sehr zahlreichen Teilnehmer*innen schätzten besonders, dass das Gespräch viele wichtige Hintergrundinformationen bot und andere Schwerpunkte setzte als die alltägliche mediale Berichterstattung.

Bericht von Uschi Haag, München
Fotos: Ingrid Scheffler