Geschichtsstunde und Traumberufe

Mittelschulabschluss-Projekt der InitiativGruppe e.V.

MiA (Mittelschulabschluss)-Projekt der InitiativGruppe e.V.

Von Yvonne Esterházy

Deutschland braucht dringend Fachkräfte, aber vielen Migrant*innen fehlen die schulischen Voraussetzungen für eine qualifizierte Ausbildung. Eine Münchner Initiative schafft hier Abhilfe. Sie ermöglicht Geflüchteten, den Mittelschulabschluss nachzuholen.

Mittelschulabschluss-Projekt der InitiativGruppe e.V.
Fotografin Lisa Hörterer

„Wie kam es zur Teilung Deutschlands?“ Zentrale Frage der sogenannten GPG-Stunde, mit der sich die rund zwanzig Schülerinnen und Schüler an diesem grauen, nasskalten Vormittag im Münchner Stadtteil Obersendling beschäftigen. GPG steht für Geschichte/Politik/Geographie – diskutiert werden Inflation, Schwarzmarkt, Lebensmittelkarten, Trümmerfrauen und vieles mehr. „Der Schwarzmarkt war ein illegaler Markt zum Tauschen und Handeln von Waren, der Staat bekam dann keine Steuern“, meldet sich Amir* aus der letzten Reihe zu Wort. „Großartig“ lobt der Lehrer.

Soweit so normal. Ungewöhnlich dagegen das Alter derjenigen, die hier die Schulbank drücken: Mirana* ist mit 56 Jahren die Älteste und auch die anderen Kursteil-nehmer*innen sind alle mindestens Mitte zwanzig, die meisten sogar älter als 30 Jahre. Sie stammen aus Madagaskar, verschiedenen afrikanischen Ländern, aus Afghanistan, aus der Türkei und aus dem Irak. Denn dies ist ein einjähriger Vorbereitungskurs auf den Mittelschulabschluss (MiA) für Flüchtlinge und Migrant*innen über 25 Jahre, der von der IG – Initiativgruppe Interkulturelle Begegnung und Bildung e.V. – veranstaltet wird.

Traumberuf Pflege

Die IG bietet diesen Lehrgang für Migrant*innen und Geflüchtete aus München an und einen weiteren für diejenigen, die nicht im Stadtgebiet wohnen. Unterrichtsfächer sind außerdem Deutsch als Zweitsprache, Mathematik sowie Wirtschaft und Beruf. Der Mittelschulabschluss in Bayern ist übrigens das, was man früher als Hauptschulabschluss bezeichnete; er ist also Voraussetzung für eine weitere berufliche oder schulische Ausbildung.

Geduldig bereitet der Lehrer seine Klasse auf die Abschlussprüfung im Juli vor. Heute steht die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Lehrplan; dabei müssen unter anderem die vier Besatzungszonen der Alliierten benannt und auf einer Deutschlandkarte identifiziert werden, ebenso die neun Nachbarländer Deutschlands. Aber Mohammed* hat noch eine brennende Frage: „Warum waren die Frauen nicht im Krieg?“ In der Geschichte seien nun mal die Männer fürs Jagen und Kämpfen zuständig gewesen, wird ihm beschieden.

Saskia van de Spreng, die Leiterin des MiA-Kurses bei der IG, erzählt, die Kursteil-nehmer*innen seien überwiegend weiblich und wollten unbedingt in Deutschland eine Ausbildung machen. Oft verfügten sie aber nicht über die entsprechenden Qualifikationen oder die nötigen Dokumente aus ihren Herkunftsländern, um diese Abschlüsse nachweisen zu können. Alle seien sehr motiviert, „die Aussicht später finanziell abgesichert zu sein und besser für die eigene Familie sorgen zu können, ist enorm wichtig“. Entsprechend hoch ist die Erfolgsquote: rund 90% der Teilnehmer*innen schaffen den Mittelschulabschluss. Erfreulich auch: Traumberuf vieler Schülerinnen ist die Pflege – also genau das, was wir hier in Deutschland brauchen.

Schwierige Frage nach Stärken und Schwächen

Die IG geht bei den Vorbereitungskursen über die reine Wissensvermittlung hinaus: Sie bietet auch sozialpädagogische Unterstützung bei familiären, finanziellen oder psychischen Problemen sowie beim Thema Kinderbetreuung, erteilt Computer-Unterricht, hilft bei der Formulierung von Bewerbungsschreiben und übt mit Rollenspielen ein, wie man sich bei Einstellungsgesprächen verhalten sollte. „Die Frage nach den eigenen Stärken und Schwächen trifft viele Kandidaten anfangs unvorbereitet“, so van de Spreng. „Über Rückenschmerzen zu klagen, empfiehlt sich jedenfalls nicht“. Sich im Interview mit der Personalabteilung ins beste Licht zu rücken, wie es in Deutschland erwartet wird, ist anderen Kulturen fremd. So schlägt man bei der Jobsuche in manchen Staaten die Augen nieder und verhält sich möglichst unterwürfig.

Praktika vermittelt die IG ebenfalls. Ein wichtiger Punkt, denn erst in der Praxis zeigt sich, wo auch beim Traumberuf – etwa in der Pflege – unvermutet Hürden auftauchen können. Fremde Männer waschen zu müssen sei für manche muslimischen Frauen ein Problem, berichtet die gebürtige Niederländerin van de Spreng. Auch der Kurs selbst kann zur Herausforderung werden: die Schüler*innen müssen lernen, wie man lernt, wie man unter Zeitdruck Prüfungen absolviert, Schreiben fällt ihnen oft schwer, sie können zu Beginn nur langsam lesen. Eine geregelte Kinderbetreuung ist neben dem Deutsch-Einstufungstest Voraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung. Eigentlich. Doch im Alltag haben vor allem alleinerziehende Mütter angesichts fehlender Kita-Plätze gelegentlich Schwierigkeiten mit der schulischen Präsenzpflicht. Andere sind abgelenkt, weil sie sich um Angehörige in ihrer alten Heimat oder ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland Sorgen machen.

10.000 Euro pro Jahr

Schon seit 2015 bietet die IG in München MiA-Lehrgänge an. Ohne öffentliche Unterstützung wäre das nicht zu stemmen, denn für die Schüler*innen, die als Geflüchtete meist noch nicht arbeiten dürfen, sind die Kurse kostenlos. Dabei ist der finanzielle Aufwand enorm: 10.000 Euro fallen alles in allem – rechnet man auch die Kosten für Mieten, Energie und die zentrale Verwaltung hinzu – pro Teilnehmer*in pro Schuljahr an. Doch der Aufwand lohnt sich, so die Kursleiterin. „Oft werden die Frauen mit den geringsten Vorkenntnissen später zu den Klassenbesten“.

Die 56jährige Mirana arbeitet am Wochenende bereits als Hilfskraft in einem Altersheim und spricht perfekt Deutsch; sie will sich später zur Pflegefachkrafthelferin ausbilden lassen. Der Geschichtsunterricht helfe ihr, sich besser mit ihren Schützlingen zu unterhalten, meint sie. Routiniert beantwortet sie die Frage nach den Teilnehmern der Potsdamer Konferenz von 1945 und den dort gefassten Beschlüssen. Doch dann gerät sie ins Grübeln: Sei Potsdam denn auch heute noch eine Stadt für wichtige politische Konferenzen? Der Lehrer wundert sich. Sie habe doch gelesen, rechtfertigt sich die Schülerin, „dass dort neulich ein wichtiges Treffen mit Politikern der AfD stattfand“. Willkommen in der Gegenwart.

*Namen von der Redaktion geändert