Lesung von Fridolin Schley
Der Vortragssaal in der Seidl-Villa ist am 18. Mai 2022 bis auf den letzten Platz besetzt. Gewinnbringend kann man den Abend nennen, wenn man bedenkt, dass die Einnahmen der Lesung der Stiftung Refugio zugutekommen. Gewinnbringend muss man den Abend nennen, wenn man die Anregungen und Fragestellungen in den Blick nimmt, die Fridolin Schley mit seinem Roman „Die Verteidigung“ eröffnet.
In diesem 2021 erschienenen Werk beschäftigt sich der Autor mit dem sog. Wilhelmstraßen-Prozess, der von 1947 bis 1949 stattfand. Fridolin Schley stellt die Verteidigung des Hauptanklagten, Ernst von Weizsäckers, ins Zentrum der Darstellung. Ernst von Weizsäcker war im NS-Staat ein führender Diplomat, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und Brigadeführer der Allgemeinen SS. Seine Verteidigung übernimmt Hellmut Becker, der von einem angehenden Juristen unterstützt wird. Dieser junge Mann ist Richard, der Sohn Ernst von Weizsäckers.
Die Suche nach der Wahrheit
Ein Foto von Vater und Sohn während der Gerichtsverhandlungen lässt Fridolin Schley nicht mehr los, aber es wird ein langer Entstehungsprozess, bis für den Autor die Struktur seines Werkes klar ist. Er wählt ein Schreiben im Konjunktiv, wechselt zwischen essayistischen und literarischen Passagen, um ein Buch der „Unruhe“, ein unsicheres Buch zu schaffen, das Erklärungsmöglichkeiten anbietet, nach der Wahrheit sucht, diese aber letztlich nicht fassen kann.
Fridolin Schley zitiert aus einem Essay des Jahres 1948 der damals noch jungen Philosophin Hannah Arendt:
„Ob jemand in Deutschland ein Nazi oder ein Anti-Nazi ist, wird nur noch der ergründen können, der in das menschliche Herz, in das bekanntlich kein menschlich Auge dringt, zu blicken vermag.“
Ernst von Weizsäcker wird wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt. Weizsäcker wusste um die Gräueltaten der Nazis, der blieb im Amt und war Teil der Bürokratie, die den Holocaust mitzuverantworten hat. Vor Gericht und wohl auch vor sich selbst wählte Weizsäcker ein anderes Narrativ: Er sah sich als Mann des Widerstands, als Vertreter einer humanistisch gebildeten Schicht, die ausharrend im Amt Schlimmeres zu verhindern suchte.
Renate Bürner-Kotzam, Mitglied der Kolibri-Stiftung und selbst Autorin, moderiert den Abend und die Lesung. Fridolin Schley wählt Textstellen, die den verschiedenen Ebenen des Romans entsprechen. Er beginnt die Lesung mit einem Auszug aus dem ersten Kapitel, das den Prozessraum und das Spannungsverhältnis zwischen Vater und Sohn lebendig werden lässt. Noch deutlicher wird die fragile Situation zwischen den Figuren im zweiten Teil der Lesung, die Aufzeichnungen der Gespräche zwischen Vater und Sohn im Gefängnis wiedergibt. Die Strategie der Verteidigung wird im letzten Teil der Lesung thematisiert.
Verdränung von Verantwortung und Schuld in der Bundesrepublik
Das Gespräch zwischen der Moderatorin und Fridolin Schley legt die Fragen und die Widersprüche einer Familiengeschichte, der deutschen Geschichte offen. Behutsam und beharrlich zugleich fragt Renate Bürner-Kotzam nach der Verdrängung von Verantwortung und Schuld in der Bundesrepublik. Richard von Weizsäcker ist im Roman der Suchende, der sich mit seinem Vater auseinandersetzt und letztlich selbst entscheiden muss, wie er die Widersprüche im Denken und Handeln des Vaters auflöst.
Verunsicherung und Zweifel prägen auch die Anfänge der Bundesrepublik, die wie die Verteidigung Ernst von Weizsäckers die Schuld nur allzu gerne von sich geschoben hat. Am 8. Mai 1985 wird der Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede halten, die den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung bezeichnet und mit diesem Bekenntnis zu einem Meilenstein in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wird.
Manche Sätze dieser Rede liest man nach der Lektüre des Buches von Fridolin Schley anders, man horcht nach, welch persönliche Erfahrungen sich in allgemein gehaltenen Aussagen verbergen. Und es bleibt die Frage: Gibt es eine Erlösung?
Von Gabriele Graswald-Vidovic