Elisabeth Wellershaus – Wo die Fremde beginnt

Renate Bürner und Elisabeth Wellershaus auf der Bühne bei einer Benefizlesung

Autorin Elisabeth WellershausGehe zurück auf Los! Diese Spielregel kennt jeder, der schon mal Monopoly gespielt hat. Kann man das aber auch im Leben? In gewisser Weise versucht das Elisabeth Wellershaus, wenn sie als erwachsene Frau ein Haus aufsucht, das ihre Urgroßeltern noch vor dem Ersten Weltkrieg gebaut haben. Ein Haus, das unweit des Reihenhauses steht, in dem die Autorin zusammen mit ihren Großeltern in Hamburg-Volksdorf aufgewachsen ist. Mit dieser Episode beginnt das persönlich gefärbte Sachbuch „Wo die Fremde beginnt – Über die Identität in der fragilen Gegenwart“, das im Beck Verlag erschienen ist.

Und daraus liest die Autorin Elisabeth Wellershaus am 12. Juni, einem heißen Frühsommerabend, in der Seidl-Villa. Es ist eine Benefizveranstaltung der Kolibri-Stiftung, die zu Lesung und Gespräch geladen hat. Die enge Verbindung zwischen der Thematik des Buches und dem Anliegen der Kolibri-Stiftung zeigt ein kurzes Statement von Freiweni Zerei zu Beginn der Lesung: Sie ist Geschäftsführerin des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften und weiß aus ihrer Arbeit, was Ausgrenzung und Rassismus bedeuten. Die Unterstützung der Betroffenen ist ein Teil der Arbeit der Organisation, die diese Aufgabe ohne großzügige Spenden aber nicht erfüllen könnte.

Elisabeth Wellershaus ist als Journalistin tätig und lebt in Berlin. Geboren ist sie 1974 in Hamburg als Tochter einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters aus Äquatorialguinea. In ihrer schriftstellerischen Arbeit beschäftigt sie sich mit den Themen von Fremdheit, Zugehörigkeit und Identität und verbindet Biografisches mit kritisch-sachlicher Analyse. Vielleicht ist es auch diese besondere Verbindung von Privatem und Öffentlichem, die mit dazu beigetragen hat, dass dieses Buch für den deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiert worden ist. Frau Bürner-Kotzam, die das Gespräch führt, betont einleitend, wie sehr die Darstellung der Autorin vom Dialog mit anderen Autor:innen geprägt ist.

Der Hauptstrang des Buches ist die Frage nach dem, was Fremde ist und wie Fremde erfahren wird. Das subjektive Erleben der Autorin, die persönlichen Erfahrungen geben den Ton vor. Elisabeth Wellershaus kennt den Wechsel zwischen Kulturen und Ländergrenzen. Ihr Vater hatte sich in den 60er Jahren in Spanien niedergelassen. In ihrer Kindheit lebt sie mit der Mutter und den Großeltern in Hamburg-Volksdorf, die Sommerwochen verbringt sie jedoch in Spanien zusammen mit ihrem Vater. Im Rückblick nimmt sie wahr, wie sehr das Kind in seiner ungewöhnlichen Lebenssituation eines Schutzes bedurfte: „Für mich war meine Großmutter die Frau, die das Boot steuerte, in dem wir alle saßen. Diejenige, die mich sicher durch die Nachbarschaft navigierte und mit der ich jeden Samstag den Weg durch die suburbane Fremde antrat.“

Mehrere Passagen des Buches, aber auch die Schilderungen im Gespräch kreisen immer wieder um ungelöste Widersprüche unserer Gesellschaft: Es geht nicht nur um die unterschiedlichen Hautfarben, es geht um Fragen der Zusammengehörigkeit, der Diversität, der Multikollektivität. Es geht also um eine Entwicklung, die gerade manche überfordert. Dabei sieht Wellershaus jeden von uns in irgendeiner Form als Fremden. Sie selbst gehört dabei zu den „Privilegierten“, weil die Auseinandersetzung mit dem Anderssein für sie Alltagsgeschäft war und ist. Die Mehrheitsgesellschaft muss diesen Prozess erst beginnen. Das Fremde in sich selbst zu erkennen ist nach ihrer Ansicht die Voraussetzung dafür, Unvertrautes, Irritationen zuzulassen und grundsätzlich Fremde und Fremdes akzeptieren zu können.

Wie unterschiedlich die Trennlinien zwischen fremd und vertraut sein können, enthüllt eine Textpassage aus dem Kapitel „Arbeit“. Elisabeth Wellershaus besucht mit einer Berliner Kollegin eine Integrationsfachtagung im ländlichen Brandenburg. Die Befürchtung der Autorin und ihrer Kollegin, als Töchter türkischer und guinesischer Einwander:innen anzuecken, erweist sich schnell als falsch. Es sind nicht die internationalen Biografien, sondern es ist „der Geruch der Hauptstadt“, der die beiden von den anderen Teilnehmer:innen trennt, die aus dem ländlichen Raum kommen und andere Probleme kennen als die Großstädter:innen. Zugehörigkeit oder Exklusion definieren sich also nicht nur nach Hautfarbe, sondern kennen vielschichtige Ursachen und Zusammenhänge.

Zwei Jahre nach dem Versuch, die Bewohner des Hauses des Urgroßvaters kennenzulernen, gesteht sich Elisabeth Wellershaus ein, dass es nur eine kurze Begegnung geworden ist. Damit endet das Buch. Zwischen Anfang und Ende hat die Autorin ihre Lebenserfahrungen nicht nur aufgezeichnet, sondern vielfältig reflektiert und immer wieder von anderen Seiten betrachtet. So gesehen ist auch im realen Leben „Gehe zurück auf Los!“ möglich, und zwar im Sinne einer Wahrnehmung bestimmter Konstellationen und Bedingungen, die prägen. Eine Pressestimme fasst dies zusammen: „Elisabeth Wellershaus analysiert, wie komplex und bereichernd FREMDHEIT ist.“

Bereichernd und anrührend war so auch dieser Abend mit vielen Besucher:innen, die gebannt lauschten und mit vielfältigen Anregungen nach Hause gehen konnten.

Text: Gabriele Graswald-Vidovic