Der Film mit dem Titel „Alles gut“ kommt ohne Fragezeichen aus. Es ist ein Dokumentarfilm von Pia Lenz, die für diese Arbeit 2018 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden ist. Der Titel wiederholt eine gängige Floskel, die gerne eingesetzt wird, um bohrenden Fragen oder auch eigenen Verunsicherungen vorzubeugen.
2015 hat Pia Lenz ein Jahr lang zwei Flüchtlingsfamilien bzw. deren Kinder in Hamburg mit der Kamera begleitet. Ihr Film dokumentiert sowohl Ankunft als auch Scheitern in einer neuen Welt. Für das Kinopublikum ist somit keineswegs alles gut, es ist zutiefst berührt von dem Schicksal der Familien.
Die Thematik des Films ist geradezu prädestiniert, um auf die Bedeutung und den Wert der Arbeit der Kolibri Stiftung aufmerksam zu machen. Wer diesen Film gesehen hat, weiß, dass ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger Unterstützung brauchen, damit sie, oft gezeichnet von dramatischen Fluchterfahrungen, ein Zuhause finden und eine Hoffnung auf Zukunft entwickeln können.
Zu Beginn der Herbstveranstaltungen zeigte die Kolibri-Stiftung nun den Film am 21.09.2022 in Kulturzentrum LUISE in der Ruppertstraße. Der große Saal des Hauses war gut besucht. Im Anschluss an die Filmvorführung gab es per Videoschaltung ein Gespräch mit der Regisseurin. Pia Lenz ist eine anerkannte und mehrfach ausgezeichnete Autorin und Filmemacherin. Nach ihrem Studium volontierte sie beim Norddeutschen Rundfunk und ist seitdem unter anderem auch Autorin und Reporterin für der Redaktionen von Panorama.
Im Zentrum des Films „Alles gut“ stehen der achtjährige Djaner, ein Roma-Junge, und die elfjährige Syrerin Ghofran. Djaner ist mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder aus Mazedonien geflohen. Djaners Mutter möchte ihren Söhnen ein Leben ohne gesellschaftliche Diskriminierung ermöglichen. Ghofran ist Teil der syrischen Familie, die ein Jahr nach der Flucht des Vaters endlich nach Deutschland kommen kann. Pia Lenz verfolgt den Alltag der Flüchtlingsfamilien, sie zeigt den Kampf mit Behörden und Bürokratie, sie zeigt den Versuch, in unpersönlichen Unterkünften ein Stück familiäre Atmosphäre zu schaffen. Vor allem aber folgt ihre Kamera den beiden Kindern auf dem Weg in die Schule, auf dem Schulhof, im Unterricht. Während Ghofran, trotz ihrer inneren Weigerung, ihre syrischen Wurzeln zu verleugnen, sich letztlich in der schulischen Gemeinschaft gut integrieren kann, wirkt Djaner dagegen häufig hilflos und überfordert. Spontane Wutausbrüche und Aggressionen erschweren ihm seine Integration noch mehr, obwohl sowohl seine Lehrerin wie auch viele Mitschüler*innen Verständnis für seine Situation aufzubringen versuchen.
Die Last des Fremdseins
Die Last des Fremdseins wird greifbar, wenn Adel, der Vater der syrischen Familie, auf der Suche nach einer Wohnung von Ablehnung zu Ablehnung stolpert. Noch bedrückender ist die Lage der Roma-Familie, die sich, von Abschiebung bedroht, schließlich vor den Behörden verstecken muss. In der Jurybegründung der Grimme-Preis-Verleihung wird die besondere Aussagekraft der Bilder des Films betont: „Eindrückliche Szenen zeigen die große Einsamkeit, die für die Kinder, aber auch für die Erwachsenen Teil der Flucht und nun der Bewältigung von Alltag in einem fremden Land ist.“
Dr. Renate Bürner-Kotzam, Mitglied im Kolibri-Team, stellte im Anschluss an den Film die Fragen an die Regisseurin. Es ging um die Voraussetzungen für diesen Film, um die Arbeitsweise mit den Kindern und um die politische Bedeutung des Dokumentarfilms generell.
Pia Lenz wirkte in ihren Antworten und Einlassungen sehr klar, sehr fokussiert. Nach ihren Worten ging es ihr von Anfang an darum, die Perspektive der Kinder einzunehmen, die aufgrund ihres Schulbesuchs viel schneller zur Integration oder auch zur Konfrontation mit der neuen Welt gezwungen werden. Auch die Wahl zweier unterschiedlicher Familien (Herkünfte, Rechtsstatus) war eine bewusste Entscheidung, um auf die unterschiedlichen rechtlichen Chancen aufmerksam zu machen. Die Wahl der Schule war dagegen eher zufällig, weil es bereits vor dem Film Kontakte zu dieser Schule gab.
Die Dreharbeiten selbst waren auf Pia Lenz konzentriert. Sie führte die Kamera meist ohne weiteres Team. Sie stellte die persönliche Verbindung zu den Familien her, indem sie viel Zeit vor und hinter der Kamera mit den Geflüchteten verbrachte. Die Konzentration auf die Kinder betrachtete die Dokumentarfilmerin als Vorteil, da diese offener und unverstellter vor der Kamera agieren.
Die Wirksamkeit des Dokumentarfilms sieht Pia Lenz in einer möglichen Öffnung der Wahrnehmung, auch durch ein berührendes Erzählen, das Empathie auslösen kann, und in einem kollektiven Schauen und Sprechen. So wie Pia Lenz eine bestimmte Perspektive gewählt hat, können wir Zuschauer neue Perspektiven sehen und entdecken.
Jahre nach dem abgeschlossenen Filmprojekt hat Pia Lenz noch Kontakt zu den Familien. Die Antwort auf die Frage, wie es den Protagonist*innen des Films heute geht, offenbarte das Dilemma von Flucht und Integration. Die syrische Familie ist inzwischen in Deutschland angekommen. Integration ist dennoch für die syrische Mutter, die nicht in die Arbeitswelt eingebunden ist, schwierig. Djaner lebte lange in verschiedenen Heimen, nachdem seine Mutter psychiatrisch betreut werden musste und seine Aggressionen jede Eingliederung belasteten. Djaner will aber in Deutschland bleiben und eine Tischlerlehre beginnen. Pia Lenz hofft, dass er durchhält.
„Alles gut“ ist ein leiser Film voller Menschlichkeit, voller Achtsamkeit. Alles gut könnte eine Zielvorgabe für unsere Zivilgesellschaft sein.
Gabriele Graswald-Vidovic